Jugendgewalt: Es brodelt im Block
Die Jugendkriminalität hat in Sachsen-Anhalt deutlich zugenommen / Spurensuche im Brennpunkt Halle-Neustadt Von Max Hunger
In Halle hält die Gewalt unter Teenagern die Polizei in Atem, viele der Täter sind Migranten. Was plagt diese Generation? Hier kommen sie zu Wort – über Autos, Drogen und zerfetzte Basketballkörbe.
Halle mz Mit wenigen Handgriffen streift Ivan sein T-Shirt unter seinem Kapuzenpulli ab. „Ich zeige dir einen Trick aus der Gegend“, sagt der 18-Jährige. Schon schlingt er sich den Stoff um das Gesicht, knotet die Ärmel hinterm Kopf zusammen. Seine Augen sind jetzt nur durch einen schmalen Schlitz zu erkennen. Die Maskierung ist perfekt. So machten das die Jungs hier, wenn sie krumme Dinger drehen. „Wenn wir Spaß haben auf der Straße.“ Ivan lacht. Er heißt eigentlich anders, will aber nicht erkannt werden. Ivan und sein Freund Hadi sind nicht kriminell, das beteuern sie. Aber die Teenager beobachten mit Sorge, wohin sich die Jugendszene entwickelt – sie wollen etwas ändern.
Seit vergangenem Frühjahr spitzt sich die Jugendgewalt in Sachsen-Anhalt zu. Bewaffnete Gruppen überfallen immer wieder andere Jugendliche und auch Erwachsene. Zuletzt registrierte das Landesinnenministerium einen Anstieg der Überfälle durch Jugendbanden. Brennpunkt: die Stadt Halle. Eine Sonderermittlungsgruppe der Polizei zählte hier 400 Taten, 130 Verdächtige. Viele sind jung, viele haben einen Migrationshintergrund. Was treibt sie auf die schiefe Bahn? Und wie erreicht man sie? Dafür lohnt ein Blick in ihre Lebenswelt.
Mittags vor der Sekundarschule „Am Fliederweg“ im Süden von Halle. Teenager strömen durch die gläsernen Türen ins Freie. Schulschluss. Unter ihnen sind auch Hadi und Ivan. Der 17-jährige Hadi ist mit seiner Familie als Kind aus Syrien geflohen, später im Libanon aufgewachsen.
Ivan stammt aus Osteuropa. Überfälle, Diebstähle, Erpressung – all das kennen sie. Angst haben sie aber nicht. Klar, viele der Täter gehören zu ihrem Bekanntenkreis. „Du brauchst Connections“, sagt Ivan.
Den Joint angesteckt – „Hadi, du lebst in Halle“
Das Stehlen von Schuhen und Kopfhörern, die Schlägereien, die Drogen – all das habe es in seiner Kindheit im Libanon nicht gegeben, erzählt Hadi. „Da war das alles tabu. Hier ist das offener.“ Er erinnert sich: Kurz nach seiner Ankunft in Halle vor einem Jahr habe er ein Mädchen kennengelernt. Als sie sich einen Joint ansteckte, stutzte er. Ihre Reaktion: „Hadi, du lebst in Halle.“
Hört man den Teenagern zu, erscheinen die Gründe für die erstarkende Jugendkriminalität, nun ja, kompliziert. Es geht um Autos und Coolness – aber auch um unbeantwortete Bewerbungen und verrottende Sportplätze.
Die Jungs zieht es nach der Schule in ihren Block in Halles Süden. Ein Basketballplatz quetscht sich zwischen die Plattenbauten, nasse Schneeflocken fallen auf den matschigen Boden. Das Netz des Basketballkorbs hängt in Fetzen herunter. „Diese Stadt ist grau“, sagt Ivan. Gute Sportplätze gebe es wenige. Das schüre die Langeweile. Denn ins Café gehen oder in einen Club – dafür braucht man Geld. Ohne geht nichts, sagt Ivan. Schon gar nicht jetzt, bei der Kälte. „Alles dreht sich um Geld“, sagt auch Hadi. Doch das sei knapp bei vielen Jugendlichen hier. Also lassen sie sich etwas einfallen – nicht immer ist das legal.
Denn die Aussicht auf einen festen Job sei für viele Teenager reizlos, sagt Hadi. Sie wollten das schnelle Geld. „Früher wollte jeder Arzt werden, heute wollen alle AMG fahren.“ Die Jungs erzählen: Ein Dach über dem Kopf und Essen im Kühlschrank, das hätten hier alle. Aber für viel mehr reicht es oft nicht. Ivans Eltern etwa arbeiten im Paketdienst und als Reinigungskraft. Neue Schuhe? Darum muss er lange bitten.
Auf Videos mit dem
Mercedes durch die Stadt
Dieses Bild der hart arbeitenden Eltern prallt auf die schillernde Welt des Gangsta-Raps: In Videos in den sozialen Medien filmen sich junge Männer, wie sie mit ihrem Mercedes durch die Stadt jagen, auf dem Beifahrersitz ein hübsches Mädchen. Stets betonen sie, wo sie herkommen: aus Vierteln wie hier in Halle. „Zwölfjährige gucken sowas schon“, sagt Ivan. Doch das Luxusleben aus dem Netz könnten die Eltern ihren Kinder nicht bieten. Er kenne aber Drogendealer, die all das erreicht haben. „Wäre ich da eingestiegen, hätte ich jetzt einen fetten Benza oder wäre im Knast.“ Er habe sich für „die Zukunft“ entschieden, wie er sagt. Viele entscheiden sich anders.
Doch die Langeweile, die falschen Vorbilder – das ist nur die eine Seite ihrer Lebenswelt.
Hadi und Ivan stehen kurz vor ihrem Schulabschluss, im Sommer ist es so weit. Hadi will danach sein Abitur nachholen und eine Ausbildung zum Fluglotsen machen. Sein Traum: ein Job am Flughafen Leipzig/Halle. Ivan möchte Kfz-Mechatroniker werden. Leicht wird ihnen der Weg zur bürgerlichen Existenz allerdings nicht gemacht.
Syrischer Name – Bewerbungen ohne Antwort
Um sein Taschengeld aufzubessern, hat Hadi sich für Mini-Jobs beworben. Ein halbes Dutzend Bewerbungen hat er an Supermärkte geschickt. Eine Absage hat er bekommen. Sonst? Funkstille. Seinem Freund Abdu geht es ähnlich. Er will in einem Kfz-Betrieb in die Lehre gehen. Die bittere Bilanz: zehn Bewerbungen, nicht eine Rückmeldung. Dabei hören auch die Jungs ständig vom Fachkräftemangel. Liegt es also an ihren arabischen Namen? An ihrem Aussehen? Die beiden gebürtigen Syrer können das nur vermuten. Aber bei ihnen verstärkt das ein Gefühl: „Man behandelt uns nicht wie Deutsche.“
Ortswechsel. Einige Wochen zuvor. Im einem Saal im halleschen Zentrum kommt der Jugendhilfeausschuss der Stadt zusammen. Thema: Jugendkriminalität. Aus der Menge erhebt sich ein junger Mann im Anzug. Es ist Hadi. Er tritt ans Mikrofon und verliest ein Statement – seine Worte ernten Applaus.
Hadi ist überzeugt: Will die Stadt die Kriminalität eindämmen, muss sie der Jugend mehr Raum geben. Sportplätze, Clubs, Freizeitangebote. Wichtig dabei: „Die Jugendlichen sollen selbst entscheiden, was gemacht wird“, sagt der 17-Jährige. Und Hadi hat Ideen: Gerade arbeitet er mit dem Kulturzentrum Passage 13 in Halle-Neustadt an einem Projekt für Jugendliche.
Jeden Samstag sollen sie ab Mitte März eine Art Wohnzimmer bekommen. Mit Tischtennisplatte, Playstation und Kartenspielen. Eintritt: ein Euro oder vier Pfandflaschen. Holt das die Teenager wirklich von der Straße? Hadi sagt: „Meine Freunde fanden die Idee toll.“
Bald deutsche Sicherheit
mit Rente und Versicherung
Fragt man die beiden Schüler, warum sie nicht mit Drogen handeln oder Leute abziehen, warum sie stattdessen den mühsamen, legalen Weg gehen, gleiten ihre Gedanken in die Zukunft.
Er habe ein Mädchen kennengelernt, erzählt Ivan. Auch für sie will er eine Ausbildung machen, später mal eine Familie gründen.
Hadi bekommt bald die deutsche Staatsbürgerschaft. Für ihn ist es ein Ankommen nach einer langen Flucht. In drei Ländern hat er schon gelebt. Rente, Krankenversicherung, Arbeitslosengeld – diese Sicherheit habe es bisher nicht gegeben. „Wir sehen Deutschland als Chance“, sagt er.
Eine Überzeugung, die viele Jugendliche in Halle offenbar nicht teilen – dabei kann sie so viel stärker sein als ein 500-PS-Mercedes.